Teil 1 v. 2
Er schaut nach links. Dann nachrechts. Es ist ganz still in der Halle. Ein kurzer Blick nach unten, das Eis spiegelt sich in seinen Augen, dann setzt er einen Fuß vor den anderen, langsam und vorsichtig. Er kann es immer noch. 44 Tage lang hat Robert Müller darauf gewartet. Es ist ein heiliger Augenblick, er will ihn genießen, allein. Aber dann stehen plötzlich diese Männer auf dem Eis, riesige Burschen, die Schultern gepolstert, den Hai auf der Brust, und hämmern mit der Schaufel ihrer Eishockeyschläger auf das Eis. Tack. Tack. Tack.
Sie kommen aus Kanada, Tschechien oder Schweden, sie wandern von Club zu Club, immer dorthin, wo es das meiste Geld gibt. Sie teilen aus und stecken ein, wenn sie sich auf dem Eis bekämpfen, sie haben nicht viel übrig für Sentimentalitäten, aber wenn sie jetzt mit ihren Schlägern auf das Eis schlagen, klingt es zärtlich. Tack, tack, tack. „Welcome back“,grölen sie.
Robert Müller weiß seit zwei Jahren, dass er Krebs hat. Er ist Profi bei den Kölner Haien und spielt für die deutsche Nationalmannschaft. Vor 44 Tagen wurde ihm zum zweiten Mal ein Teil eines Tumors aus dem Kopf entfernt, er war so groß wie die Faust eines Babys. Tack, tack, tack.
Müller zuckt kurz, dann lächelt er, setzt sich seine Torwartmaske auf und gleitet hinüber zu seinem Tor. Vor vier Tagen wurde er in Heidelberg zum letzten Mal bestrahlt, 16-mal insgesamt in den vergangenen Wochen. Den Ozongeruch, den die Strahlen verursachen, hat er immer noch in der Nase.
Sieben Minuten lang steht er auf dem Eis und wehrt die Schüsse ab, nur zwei lässt er ins Tor, er ist 1,72 Meter groß und ziemlich breit, aber seine Bewegungen sind flink und präzise, er schwitzt. Dann winkt er ab. Es reicht fürs erste Mal. Morgen kommt er wieder.
„Müller zurück auf dem Eis“, titeln die Haie später auf ihrer Homepage. „Müller steht wieder“, schreibt der Kölner „Express“. „Den Robert“, sagt einer seiner Mitspieler, „den kann eben nichts umhauen.“ Sieben Minuten im Tor, das scheint zu reichen für die Gewissheit, dass Robert Müller es wieder geschafft hat. Er hat es ja schon einmal geschafft, damals im November 2006, als die Ärzte den Tumor in seinem Kopf fanden. Drei Monate später kehrte er zurück aufs Eis. Sein Comeback war eine Sensation, seinen neuen Verein, die Kölner Haie, führte er in diesem Jahr bis ins Finale um die deutsche Meisterschaft. Sie haben ihn als Helden gefeiert, der den Krebs besiegte, es ist eine Rolle, die man ihm gegeben und die er angenommen hat.
Auch nun, nachdem man ihm im August zum zweiten Mal den Kopf geöffnet hat, weil die wachsende Geschwulst so stark auf die Blutgefäße drückte, dass sein Leben akut in Gefahr war, spricht Robert Müller wieder vom Comeback. „Ende November will ich wieder spielen“,sagt er. Aber diesmal geht es nicht mehr nur um einen Neuanfang, sondern auch um das Ende. Die Wahrheit nämlich ist, dass Robert Müller den Krebs nie besiegt hat. Sein Tumor ist nicht heilbar. Trotzdem will er wieder zurück aufs Eis. Oder gerade deshalb.
Das erste Punktspiel seiner Mannschaft nach der Operation im August hat sich Robert Müller am Abend vor seinem ersten Training angeschaut. Die Haie spielen gegen die Hannover Scorpions. Müller sitzt im Block 510 in einer Business-Lounge der Arena in Köln. Er trägt eine braune Hornbrille und eine Kappe mit der Aufschrift: „Only God can judge me“. Geboren ist er in Rosenheim, sein Oberbayerisch hat sich nur wenig abgeschliffen, er redet eh nicht viel. Unter seiner Kappe zieht sich die Narbe von Ohr zu Ohr, seit seiner ersten Strahlentherapie wachsen auf seinem vorderen Kopf keine Haare mehr.
Die Haie führen 3:0, Müller zeigt keine Regung. Irgendwann erklingt die Sirene, und er läuft los, um seinen Kameraden zum Sieg zu gratulieren. Auf dem Weg nach unten klopft ihm einer auf die Schulter und sagt: „So kann’s weitergehen, ne? Wäre doch gelacht, wenn wir das Ding nicht gewinnen.“ Müller stockt. Er hat einfach das letzte Drittel des Spiels vergessen. So etwas passiert ihm manchmal. Der Tumor nistet in seinem Vorderhirn, dort, wo die soziale Intelligenz und die Emotionskontrolle gesteuert werden. Manchmal kann er sehr offen und gesprächig sein, dann wieder wirkt er seltsam still. Er will seine Geschichte erzählen, um seiner Krankheit einen Sinn zu geben. Dass man den Krebs bekämpfen müsse, auch wenn man vielleicht keine Chance habe. Und dass es manchmal sogar besser sei, so zu tun, als wäre er gar nicht da. „Es gab Kinder, Fans von mir, die auch einen Tumor haben und von mir wissen wollten, was man gegen den Krebs tun kann“, sagt er, „da wusste ich gar nicht, was ich sagen soll.“
Behandelt wird Müller von einem der führenden Experten für Gehirntumoren in Deutschland. Wolfgang Wick hat unter anderem in Harvard studiert, mit 36 wurde er Professor und ist heute Arzt an der Universitätsklinik in Heidelberg. Von seinem Bürofenster schaut er auf die Weinberge am Neckar. Auf seinem Computerbildschirm flimmern kleine gelbe Ordner, in denen die Daten seiner Patienten gesammelt sind. „Meine Patienten“, sagt Wick, „kämpfen alle gegen den Tod.“ Wick hat gemeinsam mit seinem Team vor zwei Jahren den Krebs in Müllers Kopf erkannt. Er ist heute nicht nur sein Arzt, sondern auch sein Vertrauter. Sie haben gemeinsam besprochen, dass es jetzt sinnvoll ist, die ganze Geschichte zu erzählen und nicht nur die halbe, und dass Müller seinen Arzt von der Schweigepflicht entbindet. „Der Professor kann am besten erklären, was mit mir los ist“, sagt Müller. „Ich vertraue ihm.“ Er hat ein sogenanntes Glioblastom im Kopf, einen Tumor vierten Grades, Heilung nicht möglich.
Es sind meistens Menschen jenseits der sechzig, die an einem Glioblastom erkranken. Die meisten haben weniger als ein Jahr, weil dieser Tumor so rasend schnell wächst und die Therapien schlecht ansprechen, nur drei Prozent schaffen fünf Jahre. „Robert Müller“, sagt sein Arzt Wick, „ist schon über die mittlere Lebenserwartung bei dieser Art von Tumoren hinweg.“
Begonnen hat alles im Herbst 2006 mit einer leichten Verspannung im Nacken. Müller hat das damals nicht ernst genommen, Gehirnerschütterungen sind nichts Besonderes im Eishockey. Doch das Ziehen im Nacken wurde stärker, es kroch hoch in seinen Kopf, die Schmerzen dröhnten und ließen ihn erbrechen wie bei einem Migräne-Anfall.
Er spielte damals in Mannheim und war einer der besten Torhüter im Land. Während die Vereinsärzte begannen, nach den Ursachen der Kopfschmerzen zu suchen, lernte seine Umgebung neue Wesenszüge an ihm kennen. Robert wurde ruhiger, antwortete kaum, manchmal brauste er grundlos auf oder war einfach nur lustlos. „Um auszuschließen, dass es was Schlimmeres ist“, so sagt es Müller, „haben sie mich dann in die Röhre geschoben.
Am 13. November 2006 bezog Robert Müller das Zimmer 229 auf der Station für
Neuroonkologie in der Heidelberger Kopfklinik. Einen Tag später sägte der Neuro-hirurg Andreas Unterberg Müllers vordere Schädeldecke in einem Bogen oberhalb der Stirn auf. Er entfernte den Tumor so großflächig wie möglich und ließ das Gewebe untersuchen.
Als Robert Müller aufwachte, erklärten ihm die Ärzte, dass er einen schnell wach-
senden Tumor im Stirnhirn trage. Der Chirurg habe ihn nur teilweise entfernen
können, weil jeder weitere Vorstoß eine gravierende Veränderung der Persönlich-
keit bewirkt hätte.
Schon damals, sagt Wick, sei es nur noch darum gegangen, das Leben seines Patien-
ten zu verlängern. Gemeinsam entschieden sie sich für eine Kombination aus Strahlen- und Chemotherapie für Müller, um den Rest des Tumors zu bekämpfen. „Man muss sich den Tumor wie ein Pilzgeflecht vorstellen“, sagt Wick. „Die Pilze, die wir auf den
Kernspinbildern erkennen können, sind nur die Fruchtkörper.“ Das Wesentliche
spiele sich unsichtbar im Waldboden ab. Er habe sofort gewusst, dass Müllers Stirnhirn voller Tumorzellen sitzt. „Leider“, sagt er leise.
Fragt man Robert Müller, wie es ihm geht, antwortet er: „Gut.“ Es ist schwierig, mit ihm über seine Krankheit zu sprechen. „Ich bin keiner, der über seine Gefühle redet, das war ich noch nie, und außerdem ändert es nichts an der Diagnose.“ Robert Müller, sagt Wick, sei kein Patient, der nach dem Warum frage. Und auch nicht nach dem Wie-lange-noch.